UNESCO Erklärung von Prinzipien der Toleranz
Die Erklärung von Prinzipien der Toleranz wurde auf der 28. Generalkonferenz (Paris, 25. Oktober bis 16. November 1995) von den Mitgliedstaaten der UNESCO verabschiedet.
Entschlossen, alle positiven Schritte zu unternehmen, die notwendig sind, um den Gedanken der Toleranz in unseren Gesellschaften zu verbreiten – denn Toleranz ist nicht nur ein hochgeschürztes Prinzip, sondern eine notwendige Voraussetzung für den Frieden und für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung aller Völker,
erklären wir:
Artikel 1: Bedeutung von „Toleranz“
1.1 Toleranz bedeutet Respekt, Akzeptanz und Anerkennung der Kulturen unserer Welt, unserer Ausdrucksformen und Gestaltungsweisen unseres Menschseins in all ihrem Reichtum und ihrer Vielfalt. Gefördert wird sie durch Wissen, Offenheit, Kommunikation und durch Freiheit des Denkens, der Gewissensentscheidung und des Glaubens. Toleranz ist Harmonie über Unterschiede hinweg. Sie ist nicht nur moralische Verpflichtung, sonder auch eine politische und rechtliche Notwendigkeit. Toleranz ist eine Tugend, die den Frieden ermöglicht, und trägt dazu bei, den Kult des Krieges durch eine Kultur des Friedens zu überwinden.
1.2 Toleranz ist nicht gleichbedeutend mit Nachgeben, Herablassung oder Nachsicht. Toleranz ist vor allem eine aktive Einstellung, die sich stützt auf die Anerkennung der alpgemeingültigen Menschenrechte und Grundfreiheiten anderer. Keinesfalls darf sie dazu mißbraucht werden, irgendwelche Einschränkungen dieser Grundwerte zu rechtfertigen. Toleranz muss geübt werden von einzelnen, von Gruppen und von Staaten.
1.3 Toleranz ist der Schlussstein, der die Menschenrechte, den Pluralismus (auch den kulturellen Pluralismus), die Demokratie und den Rechtsstaat zusammenhält. Sie schließt die Zurückweisung, jeglichen Dogmatismus und Absolutismus ein und bekräftigt die in den internationalen Menschenrechtsdokumenten formulierten Normen.
1.4. In Übereinstimmung mit der Achtung der Menschenrechte bedeutet praktizierte Toleranz weder das Tolerieren sozialen Unrechts noch die Aufgabe oder Schwächung der eigenen Überzeugungen. Sie bedeutet für jeden einzelnen Freiheit der Wahl seiner Überzeugungen, aber gleichzeitig auch Anerkennung der gleichen Wahlfreiheit für die anderen. Toleranz bedeutet die Anerkennung der Tatsache, dass alle Menschen, natürlich mit allen Unterschieden ihrer Erscheinungsform, Situation, Sprache, Verhaltensweisen und Werten, das Recht haben, in Frieden zu leben und so zu bleiben, wie sich sind. Dazu gehört auch, dass die eigenen Ansichten anderen nicht aufgezwungen werden dürfen.
Artikel 2: Toleranz und der Staat
2.1 Toleranz auf der Ebene staatlichen Handelns erfordert Gerechtigkeit und Unparteilichkeit in der Gesetzgebung, bei der Anwendung der Gesetze sowie in Justiz und Verwaltung. Sie erfordert auch, dass wirtschaftliche und soziale Chancen jeder einzelnen Person ohne Unterschied zuteil werden. Ausgrenzung und Randständigkeit können Frustration, Feindseligkeit und Fanatismus zur Folge haben.
2.2 Auf dem Weg zu einer toleranteren Gesellschaft sollten Staaten die vorhandenen internationalen Menschenrechtskonventionen ratifizieren und neue Gesetze erlassen, soweit dies erforderlich ist zur Sicherstellung von Gleichbehandlung und Chancengleichheit für alle Gruppen und Individuen in der Gesellschaft.
2.3 Für ein harmonisches internationales Zusammenleben ist es wesentlich, dass einzelne, Gemeinschaften und Nationen den multikulturellen Charakter der Menschheit anerkennen und respektieren. Ohne Toleranz gibt es keinen Frieden, und ohne Frieden kann es weder Demokratie noch Entwicklung geben.
2.4 Intoleranz zeigt sich oft in Form von Marginalisierung schutzloser Gruppen und ihrer Ausgrenzung von sozialer und politischer Partizipation, verbunden mit Gewalt und Diskriminierung. Nach den Bestimmungen der Erklärung über „Rasse“ und rassistische Vorurteile “ haben alle Personen und Gruppen das Recht, verschieden zu sein“ (UNESCO-Erklärung vom 27.11.1978, Artikel 1.2).
Artikel 3: Soziale Dimensionen
3.1 In der heutigen Welt ist Toleranz wichtiger als jemals zuvor. Diese Epoche ist gekennzeichnet durch Globalisierung der Wirtschaft und durch schnell zunehmende Mobilität, Kommunikation, Integration und Interdependenz, gewaltige Wanderungsbewegungen und Vertreibung ganzer Bevölkerungen, Verstädterung und Wandel sozialer Muster. Da jeder Teil der Welt das Merkmal der Vielfalt trägt, bedrohen zunehmende Intoleranz und Zwietracht potentiell jede Region. Sie sind nicht begrenzt auf einzelne Länder, sondern eine globale Gefahr.
3.2 Toleranz ist notwendig zwischen einzelnen wie in Familie und Gemeinschaft. Toleranz und Offenheit, die Fähigkeit zum Zuhören und Solidarität sollten vermittelt werden in Schulen und Universitäten wie in außerschulischer Bildung, zu Hause und am Arbeitsplatz. Die Massenmedien können eine konstruktive Rolle spielen, indem sie Räume schaffen für freien und offenen Dialog und Diskussion, die Werte der Toleranz verbreiten und hinweisen auf die Gefahren der Indifferenz gegenüber der Ausbreitung intoleranter Gruppen und Ideologien.
3.3. Wie schon die UNESCO-Rassendeklaration bekräftigt, müssen, wie immer nötig, Maßnahmen zur Sicherung von Gleichheit in Würde und der Rechte einzelner oder ganzer Gruppen ergriffen werden. Dabei sollten sozial oder wirtschaftlich benachteiligte und deshalb besonders gefährdete Gruppen besondere Beachtung finden durch Schutzgarantien der geltenden Gesetze und Sozialhilfemaßnahmen, insbesondere in den Bereichen Wohnung, Arbeit und Gesundheit, durch Achtung der Authentizität ihrer Kultur und ihrer Werte und – insbesondere über Bildungsmaßnahmen – durch Förderung ihrer sozialen und beruflichen Entwicklung und Integration.
3.4 Zur Koordination der Antwort der internationalen Gemeinschaft auf diese globale Herausforderung sollten die erforderlichen wissenschaftlichen Studien betrieben und Netzwerke aufgebaut werden, einschließlich sozialwissenschaftlicher Erkundung der tieferen Ursachen und wirksamer Gegenmaßnahmen sowie Begleitforschung zur Politik und Gesetzgebung der Mitgliedstaaten.
Artikel 4: Bildung und Erziehung
4.1 Bildung ist das wirksamste Mittel gegen Intoleranz. Der erste Schritt bei der Vermittlung von Toleranz ist die Unterrichtung des einzelnen Menschen über seine Rechte und Freiheiten und die damit verbundenen Ansprüche sowie die Herausbildung des Willens zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer Menschen.
4.2 Erziehung zur Toleranz gehört zu den vordringlichsten Bildungszielen. Deshalb ist es notwendig, für den Unterricht zum Thema Toleranz systematische und rationale Lehrmethoden zu verbreiten, die aufklären über die kulturellen, sozialen, wirtschaftlichen, politischen und religiösen Wurzeln von Intoleranz – und damit über die tieferen Ursachen von Gewalt und Ausgrenzung. Bildungspolitik und Lehrpläne sollen ihren Beitrag leisten zur Verständigung, Solidarität und Toleranz zwischen Individuen ebenso wie zwischen ethnischen, sozialen, kulturellen, religiösen oder Sprachgruppen und zwischen den Nationen.
4.3 Erziehung zur Toleranz soll sich bemühen, das Entstehen von Angst vor anderen und der damit verbundenen Ausgrenzungstendenz zu verhindern. Sie soll jungen Menschen bei der Ausbildung ihrer Fähigkeit zur unabhängigen Wertung, zum kritischen Denken und zur moralischen Urteilskraft helfen.
4.4 Wir verpflichten uns zur Unterstützung und zur Umsetzung von sozialwissenschaftlichen Forschungsprogrammen und von Lehrplänen zu den Themen Toleranz, Menschenrechte und Gewaltlosigkeit. Besondere Aufmerksamkeit verdienen deshalb die Verbesserung der Lehrerausbildung, der Lehrpläne, der Unterrichtsinhalte und Lehrbücher sowie anderer Lehrmaterialien einschließlich der neuen Unterrichtstechnologien. Ziel ist die Ausbildung solidarisch und verantwortlich denkender Bürger, die offen sind für andere Kulturen, die den Wert der Freiheit schätzen, die die Menschenwürde ebenso wie zwischenmenschliche Unterschiede achten und die in der Lage sind, Konflikte zu vermeiden oder sie gewaltfrei zu lösen.
Artikel 5: Verpflichtung zum Handeln
Wir verpflichten uns zur Förderung von Toleranz und Gewaltlosigkeit durch Programme und Institutionen in den Bereichen Bildung, Wissenschaft, Kultur und Kommunikation.
Artikel 6: Internationaler Tag für Toleranz
Mit dem Ziel, Problembewusstsein in der Öffentlichkeit zu wecken, die Gefahren der Intoleranz deutlich zu machen und unser tätiges Engagement zu bekräftigen, proklamieren wir feierlich den 16. November zum Internationalen Tag für Toleranz.
* Der Begriff „Rasse“ wird hier in Anführungszeichen verwendet, da es sich um ein historisches Dokument handelt. Dieser veraltete Sprachgebrauch suggeriert fälschlich die tatsächliche Existenz verschiedener menschlicher Rassen, was nach einhelliger wissenschaftlicher Überzeugung und gemäß vieler Veröffentlichungen der UNESCO nicht zutrifft.