Neue Sehnsucht nach Klima des Respekts
Toleranz unterschlägt nicht den Konflikt, eröffnet aber den Weg zu geduldiger Annäherung.
Das Wort verheißt dem einen Lösung aller Konflikte, klingt dem anderen penetrant nach Gutmensch. Die Idee der Toleranz gehört zum Kernbestand von Aufklärung und freier Gesellschaft. Heute ist sie wieder gefragt. Doch wie wird Toleranz praktiziert, ohne dass sie zur Gleichgültigkeit verkommt?
Henryk M. Broder verspottet die Toleranz als “gefühlte Zivilcourage, die man nicht unter Beweis stellen muss”. Und der Philosoph Slavoj Zizek wittert in ihr die Herablassung des westlichen Kapitals gegenüber den Benachteiligten der Dritten Welt. Toleranz – klingt das Wort nicht, ebenso übrigens wie Multikulti und Teilhabe, nach der Resterampe schwächlicher Konsensdiskurse?
Spätestens seit Thilo Sarrazins Warnruf “Deutschland schafft sich ab” oder weiterer Aufregerdebatten um Parallelgesellschaften und Wertezerfall hat eher das Gegenteil von Toleranz Meinungskonjunktur – jene Null-Toleranz-Politik, die New Yorks damaliger Bürgermeister Rudolph Giuliani ab 1993 vorexerzierte. Klare Regeln statt sanfter Verständigung – ist das nicht die bessere Strategie?
“Der menschlichen Gattung schlimmstes Übel ist die Zwietracht, und deren alleiniges Heilmittel ist die Toleranz”, schrieb Voltaire 1764 in seinem “Philosophischen Wörterbuch”. Der französische Philosoph, Paradebeispiel des Aufklärers, lebte selbst in einer Epoche wütender Religionskonflikte und Befreiungskämpfe. All das schien zumindest in Europa endgültig abgetan zu sein. Doch der Streit der Religionen und Wertesysteme kehrt wieder. Konflikte zwischen Kulturen, der von Samuel Huntington prophezeite “Clash of Civilisations”, scheinen spätestens seit den Pariser Attentaten vom 7. Januar 2015 auch in Westeuropa angekommen zu sein.
Gleichzeitig akzentuieren Bewegungen wie die Dresdner “Pegida” fatale Sehnsucht nach Eindeutigkeit, die auf Abgrenzung und Fremdenfeindlichkeit beruht. Gegendemonstranten haben mit ihren Bekenntnisse zu einer Gesellschaft der “bunten” Vielfalt auch gezeigt, dass in der Frage nach dem Verhältnis zu anderen Kulturen ein Riss durch Deutschland geht. So viele Zwist und Konflikte sorgen für eine neue Sehnsucht nach Überblick, Deeskalation, kurz, nach Toleranz.
Aber wie muss sie geübt werden, wenn sie nicht zum bequemen Laisser-faire verkommen soll? “Toleranz müssen wir nur dort aufbringen, wo uns etwas stört”, hat der Frankfurter Philosoph Rainer Forst gerade im Interview mit dem “Philosophie Magazin” gesagt. Mit anderen Worten: Toleranz beginnt mit der Anstrengung, die derjenige aufbringen muss, der zunächst einmal duldet, was seiner Haltung zuwiderläuft. Etwas zu tolerieren bedeutet, Ansprüche auf absolute Wahrheit zu verabschieden. Hat nicht auch der andere gute Gründe für seine Meinung? Gebührt ihm nicht Respekt für seine kulturellen Werte? Und sollte nicht erst recht seine religiöse Überzeugung geachtet werden? Sehr richtig. Allerdings beendet Toleranz das Gespräch nicht, sie eröffnet es überhaupt erst. Toleranz dürfe nicht passive Duldung bleiben, sie müsse zur Anerkennung führen, fordert Johann Wolfgang Goethe in seinen 1833 posthum publizierten “Maximen und Reflexionen”. Toleranz setzt Partner auf Augenhöhe voraus, die nicht nur Ablehnung und Konflikt bezähmen, sondern auch bereit sind, ihre eigene Position im Kontakt mit ihren Alternativen zu modifizieren. Toleranz suspendiert nicht nur den Streit, sie führt im guten Fall auch zu Verständnis und Annäherung. Wer sich tolerant verhält, erweitert den eigenen Freiheitsraum – weil er sich als beweglich und gesprächsfähig erlebt. Ressentiment und Aggression engen dagegen ein Auch die Sieger.
Toleranz hat aber auch ihre Grenzen. Der Philosoph Paul Ricoeur hat auf den Punkt verwiesen, an dem Toleranz selbst intolerant sein muss: Dann nämlich, wenn jener Respekt verletzt wird, auf den Toleranz angewiesen bleibt. Großherzige Duldsamkeit gibt es nur unter Achtung des Menschenrechts und der Friedlichkeit. Terroristen, Warlords, Gewalttäter: Sie verdienen keine Toleranz. Allerdings kann sie den Boden dafür bereiten, dass es zu hässlichem Konflikt gar nicht erst kommt. Toleranz entfaltet dann ihre Stärke – als mildernde Wirkung sozialer Regeneration.
Autor: Stefan Lüddemann
Kommentar
Der lange Weg zur Akzeptanz
Die drei Ringe in Lessings “Ringparabel” meinen die drei großen monotheistischen Religionen Christentum, Islam und Judentum. Der Kulturwissenschaftler Jan Assmann spricht von einem vierten Ring. Und der steht für Kunst und Kultur. Die “Ringparabel” besticht als eindringlich formuliertes Toleranzplädoyer. Aber gerade die Künste wirken nicht einfach als Balsam milder Duldung. Das zeigt der Streit um Karikaturisten und Kabarettisten nur allzu deutlich.
Kunst fordert die Toleranz, weil sie überrascht, zuweilen schockiert. Kunst fordert deshalb auch die Kritik, da ihr Anspruch auf Geltung in der Diskussion abgewogen werden muss. Toleranz und Kritik – ein Gegensatz? Nein, beides gehört eigentlich zusammen.
Denn Toleranz meint nicht lahme Gleichgültigkeit, sondern den Verzicht auf Konflikte. Wer toleriert, der macht sich an die Arbeit der Auseinandersetzung. Aber an deren Ende steht oft genug die Akzeptanz.
Autor: Stefan Lüddemann