Spieglein, Spieglein an der Wand
Es wird viel über Toleranz gesprochen, meistens jedoch aus der allgemeinen Sicht eines, nennen wir es mal “unbeteiligten Dritten”. Dabei sind Formulierungen wie „die Gesellschaft…“, „es/man müsste…“ und vielerlei mehr gang und gäbe.
- „Die Gesellschaft muss toleranter werden, um…“
- „Man sollte versuchen toleranter gegenüber …“
- „Die gesellschaftliche Toleranz für …“
Aber wer ist eigentlich „die Gesellschaft“ und der/die ominöse „man-Persönlichkeit“?
Da fällt mir einer meiner Lieblings-Musiktitel wieder ein:
„Man in the mirror“ von Michael Jackson
In diesem Lied bringt er es auf den Punkt:
If you want to make the world a better place,
take a look at yourself and then make a change.
Frei übersetzt also, wenn du die Welt besser machen möchtest, dann fang bei dir selber an und ändere dich.
Ok, also ist dann wohl doch, wie schon erwartet, jede/r einzelne von uns, also auch ich, „man“ und „die Gesellschaft“.
Und schon wird es anstrengend, denn ich werde selber in die Verantwortung genommen etwas zu tun. Schluss mit den Forderungen, dass doch bitte die Gesellschaft, also die unbestimmte Menge der anderen, toleranter werden muss – nein, ich selber muss meine eigene Forderung umsetzen und sie nicht einfach nur laut genug äußern und schon wird alles besser.
Spieglein, Spieglein an der Wand, bin ich wirklich tolerant?
Wie wäre es mit einem kleinen Experiment? Du hast vermutlich irgendwo einen Spiegel in der Wohnung und findest mal 5 Minuten ungestörte Zeit – und damit kann das Experiment schon starten.
Setz oder stell dich vor den Spiegel und sieh 5 Minuten bewusst hinein. Versuch dabei dir selbst in die Augen zu schauen und nicht, wie im Alltag üblich, auf den korrekten Sitz der Kleidung oder ob da immer noch die kleinen unliebsamen Fältchen sind.
Fangen wir das Experiment recht einfach mit der Frage an: Bin ich tolerant?
Der erste Reflex ist wohl der Gedanke: „Ich bin schon recht tolerant“ – und das ist ok, denn wer das nicht denkt, sollte auch keine Toleranz von anderen fordern 🙂
Aber Toleranz hat viele Aspekte und beginnt schon im kleinen – ganz wie in der Ausbildung. Wer die Grundlagen nicht beherrscht, wird niemals Meister werden. Versuch daher einmal, während du dir weiter in die Augen siehst, deinen normalen Tagesablauf gedanklich durchzugehen. Als kleine Einstiegshilfe hier ein paar Ideen für Fragen:
- Wie verhalte ich mich morgens anderen gegenüber (Stichwort „Morgenmuffel“)?
- Grüße ich alle Menschen denen ich am Tag begegne genauso freundlich wie z.B. den bzw. die beste Freund/in?
- Wie oft nehme ich mein Mobiltelefon in die Hand, obwohl andere in meiner Nähe sind, mit denen ich sprechen könnte, oder diese mir womöglich gerade etwas erzählen?
- Verhalte ich mich freundlicher oder bin ich toleranter, wenn eine Person vermeintlich „wichtiger“ ist (z.B. der eigene Chef versus ein/e Mitarbeiter/in)?
- …
Die Liste der Fragen lässt sich beliebig erweitern – und ja, es sind tatsächlich sehr grundlegende Fragen, die viele unter dem Begriff „Umgangsformen“ zusammenfassen würden. Aber Toleranz bedeutet, anderen Menschen auf Augenhöhe zu begegnen. Daher hier gleich noch eine Frage als Ergänzung:
- Wann habe ich das letzte Mal jemanden nicht auf Augenhöhe behandelt? Kleine Hilfestellung: denk einfach an die letzten Situationen, bei denen du dich über etwas beschwert hast (egal ob persönlich, telefonisch oder schriftlich).
Spätestens bei der letzten Frage fällt vermutlich jedem eine Situation ein. Was kann ich also in Zukunft anders machen? ICH und nicht die anderen, die vermeintlich schuld daran sind, dass ich mich beschweren musste.
Selbsterkenntnis braucht Zeit
Vermutlich wunderst du dich, dass 5 Minuten sehr schnell vergehen können und du es nicht geschafft hast, alle Fragen ehrlich für dich selber zu beantworten. Dann nimm dir in den nächsten Tagen nochmals Zeit. Wenn du es geschafft hast: Herzlichen Glückwunsch 🙂
Doch wenn es dir wirklich ernst damit ist etwas ändern zu wollen, dann war das nur der Anfang einer langen Reise. Denn mit der einmaligen Beantwortung der Fragen ist es nicht getan. Diese Fragen lassen sich jeden Tag aufs neue für das gerade erlebte stellen.
Die Grenzen der Toleranz
Leben ist Bewegung – und das gilt auch für unsere Einstellung. Nichts ist schlimmer als in einer festgefahrenen Meinung zu verharren, während sich die Welt um einen herum verändert, denn das führt früher oder später zwangsläufig zu Konflikten.
Damit es nicht „langweilig“ wird, kommen wir daher zur zweiten Stufe und der Frage: Wie weit geht eigentlich meine Toleranz, wo sind die Grenzen und habe ich Grenzen, die eventuell verschoben werden können oder sollten?
Das Feld der Toleranz ist unendlich groß und entsprechend umfangreich ist die Liste der Fragen, auf die das Spieglein, Spieglein an der Wand Antworten sucht. Auch hier empfiehlt es sich im kleinen anzufangen und dann nach und nach die Liste zu erweitern. Hier wieder ein paar kleine Beispiele für mögliche Fragen:
- Welche Verhaltensweisen von Freunden, Bekannten, Kollegen oder anderen Menschen stören bzw. nerven mich?
- Warum genau stört oder nervt mich dieses Verhalten?
- Warum verhält sich der/diejenige so?
- Würde ich mich in deren Situation genauso verhalten?
- Gegenüber was genau müsste ich toleranter werden, damit es mich nicht mehr stört?
- Stecke ich Menschen (wenn auch nur ab und zu) aufgrund eines ersten Eindrucks in eine sprichwörtliche Schublade?
- Wodurch wird dieses bei mir ausgelöst?
Auch wenn diese Fragen immer noch sehr oberflächlich und vermeintlich einfach erscheinen, liegen in den Antworten schon viele Möglichkeiten zur Weiterentwicklung der eigenen Toleranz. Denn wie schon geschrieben beginnt jede Veränderung der Welt im kleinen, täglichen Miteinander.
Warnung
Es könnte dazu führen, dass du irgendwann im Spiegel nicht mehr als Erstes den korrekten Sitz deiner Kleidung siehst, sondern ein Spiegelbild deines Charakters.
Die Toleranz der anderen
Und dann bleibt noch eine der schwierigsten Fragen: Wie weit muss die Toleranz der anderen, mit denen ich Kontakt habe, eigentlich gehen, damit sie mit mir klarkommen?
- Was glaubst du, bei welchen deiner Eigenschaften oder Verhaltensweisen die Toleranz der anderen am meisten auf die Probe gestellt wird – und was davon kannst bzw. willst du ändern?
Ok, alle Fragen beantwortet? Dann fehlt eigentlich nur noch DIE eine Frage:
Was kann ich heute und den Rest meiner Tage an mir ändern, um diese Welt ein klein wenig besser für alle zu machen?