Warum ein normales Leben heute nicht mehr reicht

Wir alle haben es schon erlebt: Man trifft eine neue Person, und nach einer Weile stellt man die Frage: „Was machst du eigentlich beruflich?“ Die Antwort auf diese Frage bestimmt oft sofort, wie wir wahrgenommen werden – ob wir als interessant und bewundernswert gelten oder ob man uns schnell wieder vergisst. Diese alltägliche Erfahrung verdeutlicht, dass wir in einer Gesellschaft leben, die stark von Snobismus geprägt ist. Ein Snob ist unter anderem jemand, der nur einen kleinen Teil von uns betrachtet und daraus ein festes, umfassendes Urteil darüber ableitet, wer wir sind und wie viel wir wert sind und sich danach ggf. über uns stellt. Heute dreht sich dieser Snobismus nicht mehr um Abstammung oder die Nähe zur Königin von England, wie es in vergangenen Zeiten der Fall war. Seit dem Zeitalter der Industriellen Revolution, in dem das wohlhabende Bürgertum den Adel in seiner Bedeutung weitergehen abgelöst hat, gilt nicht mehr das Blut über unseren gesellschaftlichen Stand. Heute werden wir vielmehr danach beurteilt, welchen Beruf wir ausüben und – besonders wichtig – wie beeindruckend unsere finanziellen Erfolge sind.

Nach diesen Kriterien werden Menschen schnell und oft gnadenlos beurteilt. Es wird oft behauptet, dass wir in einer materialistischen Welt leben. Doch es ist wohl nicht der Materialismus selbst, der unsere Gesellschaft prägt. Vielmehr hat die Anhäufung von materiellen Gütern den Zugang zu Respekt und Anerkennung ersetzt – Werte, nach denen wir uns alle sehnen. Es sind nicht die Reichtümer, die schnellen Autos oder die großen Häuser, die wir wirklich begehren. Was wir tatsächlich suchen, ist die Ehre und Liebe, die sie symbolisieren.

Was sagt das über unsere Gesellschaft aus?

Als Eltern sollten wir stolz darauf sein, wenn unsere Kinder keinen übermäßigen Ehrgeiz zeigen berühmt oder außergewöhnlich zu werden. Das bedeutet, dass sie sich selbst genügen, ohne ständig nach äußerem Lob oder Status zu streben. Wenn man heutzutage junge Menschen fragt was sie werden möchten, dann gibt es Antworten wie Youtubestar, Fußballstar oder Influencer. Doch hier liegt ein gefährlicher Gedanke unserer Zeit: die Überzeugung, dass jeder alles erreichen kann. Diese Idee, so schön sie auch klingt, birgt ein großes Risiko. Denn wenn wir wirklich daran glauben, dass wir alles erreichen können und es dann nur zu einem „bisschen“ bringen, fühlen wir uns unweigerlich unzulänglich.

Dies führt uns zu einem zentralen Punkt: Wir leben in einer Zeit, in der das gewöhnliche Leben niemals besser war. Es ist heute möglich, ein Leben zu führen, das in früheren Zeiten nur den Wohlhabendsten vorbehalten war. Ein Dach über dem Kopf, ein gutes Auto, regelmäßige Mahlzeiten, medizinische Versorgung und sogar der Luxus, sich jeden Tag ein Bad zu gönnen – all das ist für die meisten Menschen in unserer Gesellschaft selbstverständlich. Unsere Vorfahren hätten dieses Niveau an Komfort und Sicherheit für ein „gewöhnliches“ Leben kaum für möglich gehalten. Und ich rede hier nicht über das Mittelalter, nicht einmal von der ersten Hälfte des 20 Jahrhunderts, sondern noch vor zwei Generationen. 

Doch trotz all dieser Fortschritte haben wir es geschafft, uns selbst in eine neue Form der Unzufriedenheit zu stürzen. Wir haben dieses „Paradies“, das wir uns erarbeitet haben, durch eine gefährliche Idee verdorben: die Vorstellung, dass ein gewöhnliches Leben nicht ausreicht, dass es psychologisch nicht genug ist. Es reicht nicht, einfach ein durchschnittliches Auto zu fahren, ein durchschnittliches Haus zu besitzen und ein durchschnittliches Essen zu genießen. Nein, uns wird gesagt, wir müssen außergewöhnlich sein. Wir sollen nach dem Außergewöhnlichen streben, nach Ruhm, Reichtum und unvergesslichen Erfolgen.

Diese Vorstellung hat uns in eine Form der Selbstfolter getrieben. Wir haben uns selbst auferlegt, dass nur das Außergewöhnliche zählt und dass ein gewöhnliches Leben eine Art persönliches Versagen darstellt. Dies ist ein Gift, das unsere Gesellschaft durchdringt und das uns krank macht.

Scheitern gehört zum Weise werden

Wir alle sind in gewisser Weise dazu bestimmt, in verschiedenen Bereichen des Lebens zu scheitern. Aber das bedeutet nicht, dass wir versagt haben. Ein gewöhnliches Leben ist ein gutes Leben. Es bietet uns Sicherheit, Komfort und die Möglichkeit, das Leben in all seinen einfachen Freuden zu genießen. Warum sollten wir uns also selbst einreden lassen, dass nur das Außergewöhnliche zählt?

Natürlich ist ein gewisser Ehrgeiz wichtig. Ehrgeiz und Tatkraft können uns motivieren, unsere Fähigkeiten zu nutzen und für etwas Gutes einzusetzen. Aber die wahre Gefahr, die uns heute bedroht, ist nicht mangelnder Ehrgeiz, sondern die Verzweiflung, die aus unerfüllbaren Erwartungen entsteht. Wir haben eine Kultur geschaffen, in der das Streben nach einem „großartigen“ Leben die psychische Gesundheit vieler Menschen zerstört. Wir leiden unter einer Epidemie von psychischen Erkrankungen, die zum großen Teil durch die Vorstellung genährt wird, dass unser Leben außergewöhnlich sein muss, um wertvoll zu sein.

Meritokratie basiert auf der Idee, dass Menschen das bekommen, was sie verdienen. Aber wenn wir glauben, dass nur diejenigen, die es an die Spitze schaffen, es verdient haben, dort zu sein, dann müssen wir auch glauben, dass diejenigen am unteren Ende es verdienen, dort zu sein. Armut und Misserfolg werden so von gesellschaftlichen Problemen zu persönlichen Fehlurteilen umgedeutet. Wir stempeln Menschen, die nicht zu den Erfolgreichen gehören, als Verlierer ab. Kein Wunder also, dass viele Menschen darunter leiden.

Wir brauchen keine weiteren Aufforderungen, „Gewinner“ zu sein.

Diese Botschaft ist tief in unser kollektives Bewusstsein eingebrannt. Was wir wirklich brauchen, ist eine andere Botschaft: Es ist okay, zu scheitern. Es ist okay, ein gewöhnliches Leben zu führen. Es ist okay, nicht immer zu wissen, wohin das Leben uns führen wird.

Freude finden wir nicht in Millionen auf dem Konto, sondern in den einfachen Dingen des Lebens: in einem guten Gespräch mit einem Freund, in einem gelungenen Essen oder in einem Tag, an dem alles gut verlaufen ist. Liebe besteht nicht in Perfektion, sondern in den kleinen Gesten des Mitgefühls und der Unterstützung. Das ist das Leben, das wir führen – ein Leben, das gut und wertvoll ist und in welchem wir uns gegenseitig unterstützen.

Autor: T.F.