Ehrlichkeit, Toleranz und Vertrauen – Ein Balanceakt
Ob bei einem kurzen Gespräch mit einem Kollegen, bei einem ersten Kennenlernen, auf einer Feier oder in anderen Situationen – gesprochen wird immer. Doch eins haben die meisten Gespräche gemeinsam: Wir sind in vielen Situationen nicht wirklich ehrlich und vertrauen anderen nur wenig.
In der heutigen Welt, in der Meinungsvielfalt und kulturelle Unterschiede eine immer größere Rolle spielen, sollten Ehrlichkeit, Toleranz und Vertrauen grundlegende Werte sein, die unser tägliches Miteinander prägen.
Obwohl sie auf den ersten Blick vielleicht als separate Konzepte erscheinen, sind sie untrennbar miteinander verbunden. Der Balanceakt zwischen Ehrlichkeit, Toleranz und Vertrauen kann maßgeblich beeinflussen, wie wir kommunizieren, Beziehungen pflegen und damit die Welt um uns herum gestalten. Doch wie hängen diese Konzepte zusammen? Und wie können wir diese in unserer Kommunikation in Einklang bringen?
Kulturelle Hintergründe: Die Norm der Höflichkeit
In vielen Kulturen wird ein hoher Wert auf Höflichkeit gelegt. Daher versuchen wir unangenehme oder peinliche Situationen zu vermeiden und lieber ausweichende oder allgemein positive Aussagen zu treffen.
Beispielsweise ist es in vielen Ländern üblich, bei einem Treffen zu fragen: „Wie geht’s?“ – auch wenn man die Antwort nicht wirklich erwartet oder sich womöglich überhaupt nicht mit den Gefühlen des anderen auseinandersetzen möchte. Die Antwort, „Danke, gut!“ wird ganz automatisch gegeben, ohne dass es ein echtes Bedürfnis gibt, die tatsächliche Gefühlslage zu teilen. Dieser soziale Automatismus basiert auf der Vorstellung, dass es als unhöflich oder unerwünscht gilt, über Gefühle zu sprechen, besonders in einem kurzen, unverbindlichen Gespräch.
Hierbei spielt das sogenannte „soziale Spiegeln“ eine wichtige Rolle: Menschen neigen dazu, sich an den Erwartungen ihrer Gesprächspartner zu orientieren und ihre Reaktionen oder Aussagen anzupassen, um positiv wahrgenommen zu werden. Das führt natürlich dazu, dass sehr persönliche Themen oder Themen, die potenziell zu Missverständnissen oder Spannungen führen könnten, meist ausgeklammert werden. Stattdessen wird oft eine Form von „positiver Fassade“ aufrechterhalten, die dem Gesprächspartner das Gefühl gibt, dass alles in Ordnung ist.
Dieser Schutzmechanismus ist tief in uns verankert. In frühen Gesellschaften war soziale Zugehörigkeit entscheidend für das Überleben. Wer aus der Gemeinschaft ausgeschlossen wurde, hatte nur sehr geringe Überlebenschancen.
Scheinwelten
Ein weiterer Faktor, der das Verhalten mehr und mehr beeinflusst, ist die zunehmende Digitalisierung der Kommunikation. Online-Kommunikation bietet mehr Raum für Filter und Selbstinszenierung, schließlich muss man anderen bei seinen Aussagen nicht direkt in die Augen sehen und womöglich kritische Rückfragen beantworten.
Auf Social-Media Plattformen präsentieren viele Menschen eine idealisierte Version ihres Lebens, was sich auch auf das Verhalten im echten Leben überträgt. Einerseits muss das online von sich selbst erzeugte Image aufrechterhalten werden, andererseits fühlen sich andere durch diese Scheinwelt ggf. minderwertig und versuchen ihrerseits ein bestmögliches Bild von sich zu erzeugen – ein Kreislauf der Scheinwelten entsteht.
Aber es gibt auch Momente, in denen Gespräche zu echten Verbindungen führen. Doch im Alltag sind sie sehr selten geworden und es zeigt sich, dass wir immer mehr in diesen sozialen Ritualen versinken, das sowohl auf bewusste als auch unbewusste Verhaltensweisen zurückgreift. Eine Konsequenz des leider immer weiter zunehmenden Egoismus?
Ein Bewusstsein für diese Dynamiken hilft, dass wir uns selber besser verstehen und gibt uns die Möglichkeit, dieses zu reflektieren.
Eine ehrlichere Kommunikation würde zweifellos einige interessante und tiefgreifende Auswirkungen auf zwischenmenschliche Beziehungen und das gesellschaftliche Zusammenleben haben. Insbesondere würde hierdurch die immer weiter zunehmende Einsamkeit von Menschen reduziert, da wieder „echte“ Kontakte zu anderen möglich werden.
Toleranz ermöglicht Ehrlichkeit – Ehrlichkeit schafft Toleranz
Viele meinen auf den ersten Blick, dass Ehrlichkeit scharf, direkt und unangenehm ist, während Toleranz oft mit Verständnis, Nachsicht und der Fähigkeit zur Diplomatie verbunden wird – doch sie gehören fest zueinander und bedingen sich gegenseitig.
Interessanterweise kann Ehrlichkeit selbst dazu beitragen, Toleranz zu fördern und umgekehrt, denn wenn wir ehrlich über unsere Meinung, Ängste, Unsicherheiten oder Gründe sprechen, schaffen wir Raum für Verständnis, Empathie und Toleranz. Anstatt diese Themen zu verschweigen oder zu verdrängen, können wir durch ehrliche Kommunikation Barrieren abbauen und den anderen dazu ermutigen, uns mit Toleranz zu begegnen. Wenn wir unsere wahren Gedanken ausdrücken, werden wir feststellen, dass viele Ängste oft unbegründet sind, es anderen ähnlich geht und dass der Dialog zu mehr Akzeptanz und Verständnis führt.
Zwischen Glauben und Vertrauen ist Friede.
Friedrich von Schiller
Vertrauen als Schlüssel zu Ehrlichkeit und Toleranz
Ein zentraler Punkt, in dem Toleranz und Ehrlichkeit miteinander verknüpft sind, ist das Vertrauen – und genau hier liegt zumeist die Schwachstelle, denn ohne ein grundlegendes Vertrauen anderen gegenüber schaffen wir nicht den Schritt in einen echten Dialog. Es bleibt bei Floskeln wie: „Wie geht es dir?“ und „Danke gut!“.
Wenn wir ehrlich sind, geben wir dem anderen die Möglichkeit, uns wirklich kennenzulernen. Doch Ehrlichkeit allein reicht nicht aus. Toleranz ist notwendig, um das, was der andere offenbart, auch zu akzeptieren, selbst wenn es uns unangenehm oder ungewohnt erscheint. Es geht darum, die Meinung oder Lebensweise des anderen zu respektieren, auch wenn sie von unserer eigenen abweicht. Toleranz sorgt dafür, dass Ehrlichkeit nicht zu Konflikten führt, sondern zu einer tieferen Verbindung, welche wiederum die Ehrlichkeit fördert.

Praktische Tipps
Es gibt zwei ganz einfache, grundlegende Tipps um diese Form der Kommunikation zu üben:
1. Sprich möglichst in der ich-Form
Es heißt ja immer, man möge nicht so viel über sich selber reden – warum eigentlich?
Durch Aussagen in der ich-Form werden Konflikte vermieden und eigene Gedanken und Gefühle preisgegeben. Typische Beispiele sind:
- Ich finde, dass …
- Ich bin der Meinung, dass …
- Ich fände es schöner, wenn …
- Mir gefällt es, wenn …
2. Begründe deine Aussagen
Hast du auch schon einmal einen Satz gehört, wie: „Du brauchst dich nicht zu rechtfertigen“?
Und schon wieder – warum eigentlich?
Wenn man seine Aussagen begründet, gibt man der/dem Gesprächspartner*in die Gelegenheit die Hintergründe zu verstehen, wordurch Toleranz erst möglich wird. Typsische Beispiele sind:
- …, weil …
- …, da ich …
- …, aufgrund von …
Kombiniert man diese, ergibt sich eine ganz einfach zu merkende Satzstruktur:
- Ich bin der Meinung, dass … weil …
- Ich fände es schöner, wenn … da ich …
Praktisches Beispiel
Aussage:
„Sonnenblumen sind die schönsten Blumen der Welt.“
X Nicht optimale Antwort:
„Da liegst du falsch, Rosen sind die schönsten Blumen der Welt.“
✓ Bessere Antwort:
„Ich finde, dass Rosen schöner sind als Sonnenblumen, weil sie viel besser riechen und ein Symbol der Zuneigung und Schönheit sind.
Fehlendes Vertrauen
Und hier gleich noch ein Beispiel, wie fehlenes Vertrauen eine eigentlich gut gemeinte Kommunikation in eine vollkommen falsche Richtung leiten kann:
In der Stadt sieht jemand (A) zufällig eine*n Bekannte*n (B) in einem Café sitzen und spricht ihn/sie freudig an:
A: „Hallo, lange nicht gesehen, wie geht es dir?“
B: „Ganz gut, danke. Und dir?“
A: „Danke, mir auch. Was machst du jetzt so?“
B: „Ich sitze in einem Café“
A: „Nee, ich meine beruflich.“
B: „Urlaub, sonst könnte ich um diese Zeit ja nicht in einem Café sitzen.“
A: „Ähh, ok… Fährst du noch weg?“
B: „Ich habe gerade erst bestellt und wollte schon noch meinen Kaffee austrinken. Hast du mich jetzt nur angesprochen, weil du hier einen freien Tisch suchst, oder was?“
Toleranz schützt vor Überforderung – Ehrlichkeit schafft Klarheit
In manchen Situationen ist es schwierig, zwischen Ehrlichkeit und Toleranz zu navigieren. Je nach Situation kann eine zu direkte oder unbedachte Ehrlichkeit verletzen oder auf unterschiedliche Art überfordern. Eine Art der Überforderung kann durch plötzliche, unerwartete Ehrlichkeit entstehen. Besonders heikel wird es, wenn zwischen den Personen keine persönliche Beziehung besteht, sodass der/die andere nicht eingeschätzt werden kann. In solchen Situationen kann es schnell als unhöflich, arrogant oder rüpelhaft wahrgenommen werden.
Ein typisches Beispiel findet sich im Restaurant auf die Frage: „Hat es geschmeckt?“. Ohne allzu sehr in Schubladen zu denken, gibt es nach meiner Erfahrung doch einige „Grund-Typen“ von Menschen, die man anhand der Antwort auf die Frage erkennen kann, wenn es mal nicht geschmeckt hat:
- Die überhöfliche und zumeist sozial erwünschte Antwort: „Ja, danke“
- Die (vermeintlich) „witzige“ Antwort: „Ehrlich oder höflich?“
- Die ehrliche Antwort: „Ich fand es insgesamt gut, nur … war für meinen Geschmack etwas zu …„
- Die gnadenlos ehrliche Antwort: „Nein“
Eine andere Art der Überforderung kann eintreten, wenn das Gesagte einen wesentlichen Einfluss auf das Weltbild des anderen hat. Ein typisches Beispiel, welches (erstaunlicherweise) immer noch viele überfordert sind die Produktionsbedingungen von Dingen wie Kleidung, Nahrung, etc. Hartnäckig hält sich beispielsweise bei der Produktion von Wolle das Bild von kuscheligen Schafen, die blökend auf grünen Wiesen mit schattigen Plätzen unter vereinzelten Bäumen ein glückliches Leben leben und ab und zu mal geschoren werden, während gutmütige Hirtenhunde auf ihre Sicherheit achten.
Der Unterschied zwischen passiver Toleranz und aktiver Toleranz
Um Toleranz zu leben, werden beide Seiten benötigt – die passive Toleranz und die aktive Toleranz, denn nur gemeinsam können sie echte Toleranz hervorbringen.
Die passive Toleranz
Die passive Toleranz bezieht sich auf die eigene innere Einstellung zu den Verhaltensweisen, Meinungen und Lebensweisen anderer und den Umgang damit. Wenn über das Thema Toleranz gesprochen wird, sind die meisten Menschen gedanklich bei dieser passiven Form.
Die aktive Toleranz
Bei der aktiven Toleranz geht es dagegen darum, die aus der passiven Toleranz gewonnenen Erkenntnisse über den anderen in die eigene Art der Kommunikation und das eigene Verhalten einfließen zu lassen. Sie zeigt sich somit im aktiven Umgang mit anderen.
Ein praktisches Beispiel
Nehmen wir als übertrieben vereinfachtes Beispiel an, dass man im Gespräch mit jemandem durch die passive Toleranz feststellt, dass er/sie in Bezug auf die Produktion von Wolle an unsere glücklichen Schafe glaubt. Würde man tatsächlich die schonungslose Wahrheit platt vor den Kopf sagen, wäre es zwar ehrlich, aber es könnte das Weltbild des anderen zerstören. Toleriert man das Weltbild des anderen tatsächlich, dann verpackt man die Wahrheit bei Bedarf entsprechend in „kleine Häppchen“ oder legt diese auf eine andere geeignete Weise dar.
Es geht dabei nicht darum, die Wahrheit zu verdrehen oder Dinge zu verschweigen, sondern um die Überlegung, den richtigen Moment und die richtige Form der Ehrlichkeit zu finden. Der Schlüssel liegt darin, sich bewusst zu machen, dass Ehrlichkeit nicht gleichbedeutend mit rücksichtsloser Offenheit ist. Wir müssen lernen, unsere Wahrheiten auf eine Weise zu äußern, die sowohl respektvoll als auch verständlich für andere ist.
Ehrlichkeit darf nicht als Freibrief für rücksichtsloses Verhalten genutzt werden, sondern als Werkzeug, das – gepaart mit Toleranz und Vertrauen – das Potenzial hat, tiefgreifende und bereichernde Beziehungen zu schaffen.
Es ist nicht immer einfach, Ehrlichkeit und Toleranz in Einklang zu bringen. Die ständige Balance zwischen dem, was wir sagen wollen und dem, was der andere ertragen kann, stellt uns immer wieder vor Herausforderungen. Besonders in emotional aufgeladenen Situationen oder bei sensiblen Themen wie Politik, Religion oder persönlichen Werten kann es schwierig sein, den richtigen Ton zu finden. Zu viel Ehrlichkeit ohne Rücksicht auf den anderen kann verletzend wirken, während zu viel Toleranz dazu führen kann, dass die eigene Meinung in den Hintergrund tritt.
Schlage anderen deine Wahrheit nicht wie einen nassen Lappen um die Ohren, sondern reiche sie ihnen wie einen Mantel um sie anprobieren zu können.
Der Weg zu uns selbst
Der Zusammenhang zwischen Ehrlichkeit, Toleranz und Vertrauen zeigt sich in der Art und Weise, wie wir miteinander umgehen und wie wir unsere Beziehungen gestalten. Ein grundlegendes Vertrauen in andere ist die Grundlage für Ehrlichkeit und der Weg zu mehr Toleranz. Toleranz ist wiederum die Basis, um respektvolle und konstruktive Gespräche zu fördern. Toleranz ermöglicht es uns, die Ehrlichkeit des anderen zu akzeptieren, während Ehrlichkeit dazu beiträgt, dass wir uns gegenseitig und auch selber besser verstehen, respektieren und mehr Vertrauen schenken.
Wenn wir lernen, unsere eigenen Überzeugungen ehrlich auszudrücken, während wir gleichzeitig die Freiheit des anderen respektieren, abweichende Ansichten zu vertreten und die Gefühle und Bedürfnisse anderer berücksichtigen, ohne diese zu verurteilen oder zu attackieren, begeben wir uns auf einen Weg der gemeinsamen Erkenntnis, des Friedens und tragen zu einer offenen und inklusive Gesellschaft bei.