Kulturwissenschaftler Jan Assmann: “Totale Religion” liefert Antriebe für die Gewalt
Monotheistische Religionen enthalten Antriebe für Gewalt. Der Kulturwissenschaftler Jan Assmann erkennt in der “totalen Religion” einen Antrieb des Terrorismus. Assmann, bis 2003 Professor für Ägyptologie in Heidelberg, fordert deshalb den Dialog mit gemäßigte Muslimen.
Terroristische Gewalt wird oft mit religiösen Begründungen versehen. Gibt es einen notwendigen Zusammenhang zwischen Religion und Gewalt?
Nein. Es werden immer wieder Verbindungen hergestellt. Ich unterscheide zwischen religios motivierter und religiös legitimierter Gewalt. Im zweiten Fall übt man Gewalt aus und legitimiert dies unter Berufung auf heilige Texte. Damit kann man natürlich alles machen. Bibel oder Koran sind reich an Textstellen, mit denen sich Gewalt legitimieren lässt. Das gilt auch für den Terror.
Die Weltreligionen formulieren eine übereinstimmende Botschaft der Menschenliebe. Warum gehen Religion und Gewalt heute trotzdem oft zusammen?
Das Friedensgebot der Religionen gilt nach innen. Der Grundgedanke der Weltreligionen ist der Bund, ist die Offenbarung Gottes. Gott schließt den Bund mit denen, die an ihn glauben. Und er gibt die Regeln dafür vor, in diesem Bund verbleiben zu können. Das ist das Grundmodell von Christentum, Judentum und Islam. Das Christentum hat dieses Konzept vom Judentum übernommen und ausgeweitet, weil es die ethnische Bindung aufgegeben hat. Der Islam hat dieses Konzept darüber hinaus politisch angewendet. Wichtig ist auch die Idee der Offenbarung. Der Frieden ist eine Befriedung nach innen. Auch Gewalt ist zunächst immer nach innen gerichtet. Sie gilt den Abtrünnigen und Verrätern in den eigenen Reihen. Um das Goldene Kalb tanzen nicht die Heiden, sondern die eigenen Leute. Die Gewalt nach innen wird um der Treue zum Glauben willen ausgeübt. So gibt es Leute die glauben, mit Gewalt vorgehen zu müssen, um ihre Treue zu dokumentieren. Das ist die schlimmste Form der Gewalt. Entsprechend fallen dieser Gewalt heute ja viel mehr Muslime als sogenannte Ungläubige zum Opfer.
Sie analysieren das Konzept der totalen Religion. Was meinen Sie damit?
Dabei wende ich die politische Theorie von Carl Schmitt auf die Religion an. Schmitt hat in seinem Buch “Der Begriff des Religiösen” von 1928 das Ideal des totalen Staates und des absoluten Primates der Politik über alle anderen Lebensbereiche entworfen. Schmitt differenziert die menschliche Kultur in unterschiedlichen Sphären wie Wirtschaft oder Recht. Diese Sphären sind über leitende Entscheidungen definiert. Schmitt stellt die Politik, die er über die Unterscheidung von Freund und Feind definiert, über alle anderen Sphären. Das begründet er mit seiner Vorstellung des Ernstfalls als Krieg. Wenn man dieses Modell mit der Leitunterscheidung Glauben und Unglauben auf die Religion anwendet und die Religion so wie Carl Schmitt die Politik über alle anderen Lebensbereiche stellt, dann gelangt man zu einem Modell der totalen Religion. Die Unterscheidung von Glauben und Unglauben hängt mit der Offenbarung zusammen. Die neuen Lebensregeln beruhen nicht auf Erfahrung, der Ordnung des Gegebenen, wie in den “heidnischen” Religionen, sondern kommen von außen und fordern Glauben. In der Situation des Ernstfalls kommt es dann oft zu einer Verschärfung, wie sie Carl Schmitt für das Politische beschreibt. Im Alten Testament war der Zorn Gottes der Ernstfall, im Christentum und Islam ist es das Weltgericht, die Apokalypse. Im Zeichen dieses Ernstfalls gilt es, sich zu entscheiden und den Unglauben auszurotten, auch in sich. Im Koran gibt es praktisch keine Sure, in der nicht das Weltgericht vorkommt. Der radikale Islamismus spitzt diese Konstellation zu.
Sie sagen, dass monotheistische Religionen nicht per se gewalttätig sind. Warum wird Gewalt heute oft religiös legitimiert?
Islamische Puritaner wie die Wahhabiten gehen davon aus, dass das Weltgericht ständig im Raum steht und man strenggläubig leben muss. Man muss zwischen dem normalen Islam und dem terroristischen Islam unterscheiden. Auch die strenggläubigen Moslems in Saudi-Arabien etwa sind ja nicht per se Terroristen. Der Terrorismus, wie etwa Al Qaida, kommt aus dem Wahhabismus, hat sich aber so verselbstständigt, dass sich auch Saudi-Arabien davon bedroht fühlt. Es gibt aber auch den christlichen Fundamentalismus wie die Evangelikalen oder die Pfingsten. Das Problem totaler Religion hängt immer mit einer falsch verstandenen Apokalyptik zusammen. Wir haben auch im Amerika unter den Präsidenten Ronald Reagan und George W. Bush gesehen, wie leicht solche Denkformen in Politik umschlagen können.
In Zeiten des Terrorismus stellt sich die Frage: Wie lässt sich totale Religion eingrenzen?
Ich kann mich nicht in die Seele eines Terroristen hineindenken. Das ist mir denkbar fremd. Ich trage die ideengeschichtliche Analyse bei. Wir müssen schauen, was das für Ideen sind, die in den Köpfen dieser Leute herumspuken und woher sie kommen. Mein Gedanke ist, dass diese Ideen aus den Bundesreligionen und aus ihren Vorstellungen der Offenbarung kommen. Das Christentum hat die Ideen der Erlösung und der Befreiung in das Zentrum gestellt. In diesem Zusammenhang spielt auch die Vorstellung des Gotteszorns eine große Rolle. Der Islam baut auch auf dem Alten Testament auf und hat deshalb an dem gleichen Vorstellungskomplex teil. Die Prominenz des Themas Apokalypse empfinde ich als ausgesprochen unheilvoll, wie auch in der politischen Theorie von Carl Schmitt. Ich verabscheue diese Ideenwelt. Mein Beitrag besteht darin, diese Vorstellungen zu rekonstruieren, aus ihnen gleichsam die Luft herauszulassen.
Wir sind in Zeiten des Terrorismus mit totaler Religion konfrontiert. Was tun?
Wir brauchen das Bündnis mit Gleichgesinnten auf der anderen Seite. Es gibt genug Muslime, die unter dem Terrorismus und der puritanischen Verschärfung des Islam leiden. Es gibt Aufklärung im Islam. Wir sollten also nicht so dumm sein, auf jenen Islam hereinzufallen, der uns einschüchtern will. Wir müssen Bundesgenossen finden und stärken, sowohl ideell wie finanziell. Schaffen wir uns in der islamischen Welt Freunde. Wir dürfen diese Welt nicht als ganze verteufeln. Praktizieren wir den Frieden, indem wir uns mit Friedenswilligen zusammentun.
Autor: Stefan Lüddemann
Kommentar
Es geht wieder um die Freiheit
Mit der “Ode an die Freude” wurde die neue Hamburger Elbphilharmonie eröffnet. “Seid umschlungen, Millionen”: Beethovens tönender Versöhnungstaumel klingt für viele nach hohler Feiertagsroutine. Das wird sich jetzt ändern. Aus dem scheinbar überlebten Appell ist längst wieder eine dringende Notwendigkeit geworden. Dafür sorgen Fanatismus und Populismus. Religiös motivierte Gewalttäter und nationalistisch aufgeheizte Eiferer stellen einen Konsens infrage, der unangreifbar zu sein schien.
Dabei geht es um nichts weniger als das friedliche Miteinander in einer säkularen und toleranten Gesellschaft. Kultur zählt dabei nicht mehr als gelebter Pluralismus. Populisten und Eiferer machen aus Kultur ein starres Merkmal, mit dem sich ihrer Meinung nach Menschen trennend zuordnen lassen. Darin liegt bereits der Keim zur Gewalt.
Wer Freiheit auf Freizeit reduziert und Kultur mit Konsum gleichsetzt, macht einen entscheidenden Fehler. Terroristen und Populisten fördern ein Klima der Feindschaft, in dem Freiheit nicht gedeihen kann. Ob Lessings “Nathan” oder Beethovens Neunte: Ihre Botschaften zählen wieder.
Autor: Stefan Lüddemann